Das Wichtigste im Überblick:
- Schilddrüsenerkrankungen können einen Grad der Behinderung von 10-50 rechtfertigen – abhängig von der Schwere der Funktionsstörung und den Auswirkungen auf das tägliche Leben
- Die Bewertung erfolgt nach der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) – dabei werden sowohl die medizinischen Befunde als auch die tatsächlichen Funktionseinschränkungen berücksichtigt
- Viele Anträge werden zunächst abgelehnt oder zu niedrig bewertet – ein Widerspruch mit fundierter medizinischer Dokumentation kann oft zu einer höheren Einstufung führen
Warum Schilddrüsenerkrankungen oft unterschätzt werden
Schilddrüsenerkrankungen gehören zu den häufigsten Hormonstörungen in Deutschland. Millionen von Menschen leben mit Über- oder Unterfunktionen, Hashimoto-Thyreoiditis, Morbus Basedow oder anderen Erkrankungen der Schilddrüse. Obwohl diese Erkrankungen das Leben der Betroffenen erheblich beeinträchtigen können, werden sie bei der Feststellung des Grades der Behinderung oft nicht angemessen berücksichtigt.
Die Schilddrüse steuert als zentrale Hormonsteuerzentrale zahlreiche Körperfunktionen. Störungen können sich auf Herz-Kreislauf-System, Stoffwechsel, Psyche, Muskulatur und viele weitere Bereiche auswirken. Dennoch führt der unsichtbare Charakter vieler Symptome dazu, dass Versorgungsämter die tatsächlichen Einschränkungen häufig unterschätzen.
Rechtliche Grundlagen der Bewertung
Die Versorgungsmedizin-Verordnung als Bewertungsmaßstab
Die Bewertung von Schilddrüsenerkrankungen erfolgt nach der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV), die als Anlage zu § 2 des Versorgungsmedizin-Verordnungsgesetzes die verbindlichen Bewertungskriterien festlegt. Diese Verordnung enthält konkrete Anhaltspunkte für die Bewertung verschiedener Schilddrüsenerkrankungen.
Grundsätze der Gesamtbewertung
Das Schwerbehindertenrecht folgt dem Grundsatz, dass nicht die Diagnose allein entscheidend ist, sondern die tatsächlichen Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Dies ist in § 2 SGB IX verankert, wonach Menschen mit Behinderungen solche sind, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können.
Schilddrüsenerkrankungen und ihre Bewertung im Detail
Autoimmunthyreoiditis
Die Hashimoto-Thyreoiditis ist die häufigste Form der chronischen Schilddrüsenentzündung. Diese Autoimmunerkrankung führt langfristig meist zu einer Schilddrüsenunterfunktion, kann aber auch phasenweise mit Überfunktionen einhergehen.
Typische Beschwerden umfassen:
- Chronische Erschöpfung und Müdigkeit
- Konzentrations- und Gedächtnisstörungen
- Depressive Verstimmungen
- Gewichtszunahme trotz normaler Ernährung
- Kälteempfindlichkeit
- Muskel- und Gelenkschmerzen
- Verdauungsstörungen
Morbus Basedow
Der Morbus Basedow kann neben der Schilddrüsenüberfunktion zusätzliche Komplikationen verursachen, die bei der Bewertung zu berücksichtigen sind. Die Gesamtbewertung erfolgt nach den Grundsätzen der Mehrfachbehinderung, wobei die Einzelbeeinträchtigungen nicht einfach addiert, sondern in ihrer Gesamtauswirkung bewertet werden.
Schilddrüsenkarzinom und operative Eingriffe
Nach operativer Entfernung der Schilddrüse (Thyreoidektomie) sind mehrere Aspekte zu bewerten:
- Die erforderliche lebenslange Hormonsubstitution mit möglichen Einstellungsschwierigkeiten
- Komplikationen des Eingriffs wie Stimmbandlähmungen oder Nebenschilddrüsenunterfunktion
- Nachsorgeuntersuchungen und deren Belastung
- Psychische Belastung durch die Krebsdiagnose
Praktische Tipps für Betroffene
Optimale Vorbereitung des Antrags
Vollständige medizinische Dokumentation sammeln:
- Alle Laborwerte der letzten zwei Jahre
- Fachärztliche Befunde und Stellungnahmen
- Bildgebende Verfahren (Sonographie, Szintigraphie)
- Medikationsliste mit Dosisanpassungen
Symptomtagebuch führen: Ein detailliertes Tagebuch über mindestens vier Wochen kann die Auswirkungen der Erkrankung objektiv dokumentieren. Notieren Sie:
- Tagesform und Energielevel (Skala 1-10)
- Spezifische Beschwerden und deren Intensität
- Auswirkungen auf berufliche und private Tätigkeiten
- Medikamenteneinnahme und Nebenwirkungen
Arbeitsmedizinische Bewertung einholen: Falls berufliche Einschränkungen bestehen, kann eine arbeitsmedizinische Stellungnahme die Auswirkungen der Erkrankung auf die Arbeitsfähigkeit objektiv bewerten.
Wichtige Aspekte für die Begutachtung
Funktionelle Auswirkungen betonen: Versorgungsämter bewerten nicht die Diagnose, sondern deren Auswirkungen. Beschreiben Sie konkret:
- Welche Tätigkeiten sind eingeschränkt?
- Wie lange können Sie sich konzentrieren?
- Wie wirkt sich die Müdigkeit auf Ihren Alltag aus?
- Welche sozialen Aktivitäten mussten Sie aufgeben?
Therapieresistenz dokumentieren: Wenn trotz optimaler Therapie Beschwerden fortbestehen, ist dies ein wichtiger Bewertungsfaktor. Lassen Sie sich dies von Ihrem behandelnden Arzt schriftlich bestätigen.
Häufige Bewertungsfehler und wie Sie sie vermeiden
Unterschätzung der psychischen Komponente
Schilddrüsenerkrankungen gehen häufig mit depressiven Verstimmungen, Angststörungen oder kognitiven Beeinträchtigungen einher. Diese psychischen Auswirkungen werden bei der Bewertung oft übersehen oder unterschätzt.
Lösungsansatz: Lassen Sie sich von einem Psychiater oder Psychologen die psychischen Auswirkungen attestieren. Diese können als eigenständige Beeinträchtigung oder als Verstärkung der Grunderkrankung bewertet werden.
Fehlende Berücksichtigung von Begleiterkrankungen
Autoimmunthyreoiditis tritt häufig zusammen mit anderen Autoimmunerkrankungen auf. Diese Begleiterkrankungen müssen im Gesamtkontext bewertet werden.
Unzureichende Dokumentation der Alltagseinschränkungen
Medizinische Befunde allein reichen nicht aus. Entscheidend ist die Darstellung, wie sich die Erkrankung auf konkrete Lebensbereiche auswirkt.
Wenn Sie Schwierigkeiten bei der Bewertung Ihrer Schilddrüsenerkrankung haben oder mit der Entscheidung des Versorgungsamtes nicht einverstanden sind, kann eine spezialisierte rechtliche Beratung hilfreich sein. Ich unterstütze Sie gerne bei der Einschätzung Ihrer Erfolgsaussichten und der optimalen Vorbereitung Ihres Widerspruchs.
Checkliste für Ihren Antrag
Vor Antragstellung
- Alle medizinischen Unterlagen der letzten 2-3 Jahre zusammenstellen
- Aktuelle fachärztliche Stellungnahme einholen
- Symptomtagebuch über mindestens 4 Wochen führen
- Bei beruflichen Einschränkungen: Arbeitsmedizinische Bewertung
- Psychische Auswirkungen durch Facharzt dokumentieren lassen
Medizinische Dokumentation
- Laborwerte
- Bildgebung
- Histologie bei operativen Eingriffen
- Medikamentenliste mit Dosisanpassungen
- Dokumentation von Nebenwirkungen und Unverträglichkeiten
Funktionelle Auswirkungen
- Konkrete Beschreibung der Alltagseinschränkungen
- Berufliche Auswirkungen mit Beispielen
- Soziale Einschränkungen dokumentieren
- Auswirkungen auf Hobbys und Freizeitaktivitäten
- Schlafqualität und Erholungsfähigkeit
Bei Ablehnung oder zu niedriger Bewertung
- Widerspruchsfrist beachten (1 Monat)
- Zusätzliche medizinische Befunde beibringen
- Verschlechterungen seit Antragstellung dokumentieren
- Zweitmeinung eines anderen Facharztes einholen
- Rechtliche Beratung in Anspruch nehmen
Ihre Rechte durchsetzen
Schilddrüsenerkrankungen können das Leben erheblich beeinträchtigen und rechtfertigen oft einen höheren Grad der Behinderung, als zunächst vom Versorgungsamt festgestellt wird. Die unsichtbare Natur vieler Symptome darf nicht dazu führen, dass Ihre berechtigten Ansprüche übersehen werden.
Eine sorgfältige Dokumentation der Erkrankungsauswirkungen und eine fundierte medizinische Bewertung sind die Grundlagen für eine angemessene Bewertung. Scheuen Sie sich nicht, bei unzureichender Bewertung Widerspruch einzulegen oder sich professionelle Unterstützung zu holen.
Ihre Gesundheit und Lebensqualität verdienen eine angemessene Anerkennung durch das Sozialrecht. Mit der richtigen Vorbereitung und Dokumentation stehen die Chancen gut, eine realistische Bewertung Ihres Gesundheitszustandes zu erreichen.
Als Fachanwalt für Sozialrecht mit langjähriger Erfahrung in der Durchsetzung von Schwerbehindertenansprüchen stehe ich Ihnen gerne zur Seite. Bundesweit unterstütze ich Menschen dabei, ihre berechtigten Ansprüche gegenüber Versorgungsämtern und Sozialgerichten durchzusetzen.
Häufig gestellte Fragen
Ab welchem GdB gilt man als schwerbehindert?
Ein Grad der Behinderung von mindestens 50 führt zur Anerkennung als schwerbehinderter Mensch.
Werden Begleiterkrankungen zusätzlich bewertet?
Begleiterkrankungen werden in der Gesamtschau bewertet. Dabei werden sie nicht einfach addiert, sondern es wird die Gesamtauswirkung auf die Teilhabefähigkeit beurteilt.
Wie lange dauert ein Bewertungsverfahren?
Die Bearbeitungszeit beim Versorgungsamt beträgt üblicherweise 3-6 Monate. Bei Widerspruchsverfahren können weitere 3-6 Monate hinzukommen.
Kann ich einen Verschlimmerungsantrag stellen?
Ja, wenn sich Ihr Gesundheitszustand verschlechtert hat, können Sie jederzeit einen Änderungsantrag stellen.
Brauche ich einen Anwalt für den Erstantrag?
Nicht zwingend, aber eine fachkundige Beratung kann helfen, häufige Fehler zu vermeiden und die Erfolgsaussichten zu verbessern.
Werden psychische Auswirkungen der Schilddrüsenerkrankung berücksichtigt?
Ja, psychische Begleiterscheinungen können eigenständig bewertet werden oder die Bewertung der Grunderkrankung verstärken.
Kann eine Schilddrüsenerkrankung zur Erwerbsminderung führen?
Bei schweren Verläufen kann eine Schilddrüsenerkrankung die Erwerbsfähigkeit erheblich einschränken. Dies wird in einem separaten Verfahren bei der Deutschen Rentenversicherung geprüft.
Wie oft muss der GdB überprüft werden?
Befristungen sind bei Schilddrüsenerkrankungen selten. Eine erneute Überprüfung erfolgt meist nur auf Antrag oder bei wesentlichen Änderungen des Gesundheitszustands.
