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Warum die Bewertung mehrerer Erkrankungen komplex ist

Viele Menschen leben gleichzeitig mit verschiedenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Diabetes und Herzerkrankung, chronische Rückenschmerzen und Depression, oder Hörschäden und Gelenkbeschwerden – die Kombination mehrerer Leiden ist häufiger als man denkt. Doch wie bestimmt das Versorgungsamt den Grad der Behinderung, wenn mehrere Erkrankungen vorliegen?

Die Bewertung mehrerer Erkrankungen beim Grad der Behinderung folgt besonderen Regeln, die vielen Betroffenen nicht bekannt sind. Anders als oft angenommen, werden die einzelnen GdB-Werte nicht einfach zusammengerechnet. Stattdessen erfolgt eine komplexe Gesamtbewertung, die die Auswirkungen aller Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe am Leben berücksichtigt.

Rechtliche Grundlagen der GdB-Bewertung bei mehreren Erkrankungen

Gesetzliche Basis im Sozialgesetzbuch IX

Die rechtliche Grundlage für die Bewertung des Grades der Behinderung findet sich in § 152 SGB IX. Dieser Paragraph definiert, dass Menschen mit Behinderungen Anspruch auf die in diesem Gesetzbuch und anderen Gesetzen vorgesehenen Maßnahmen haben, soweit sie die besonderen Voraussetzungen erfüllen.

Der Grad der Behinderung wird gemäß den „Versorgungsmedizinischen Grundsätzen“ ermittelt. Diese Grundsätze sind für alle Versorgungsämter verbindlich und sorgen für eine einheitliche Bewertung in ganz Deutschland.

Die Versorgungsmedizinischen Grundsätze als Bewertungsmaßstab

Die Versorgungsmedizinischen Grundsätze enthalten detaillierte Bewertungstabellen für verschiedene Erkrankungen und Funktionsbeeinträchtigungen. Sie legen fest, welche GdB-Werte für bestimmte Gesundheitsstörungen anzusetzen sind und wie bei mehreren Erkrankungen zu verfahren ist.

Ein zentraler Grundsatz besagt, dass bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen der Gesamt-GdB nicht durch Addition der Einzel-GdB ermittelt wird. Vielmehr ist von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann zu prüfen, ob und inwieweit durch weitere Funktionsbeeinträchtigungen eine zusätzliche Teilhabebeeinträchtigung entsteht.

Rechtsprechung zur Gesamtbewertung

Die Rechtsprechung der Sozialgerichte hat die Grundsätze der GdB-Bewertung bei mehreren Erkrankungen über die Jahre präzisiert. Dabei wurde klargestellt, dass eine mechanische Anwendung von Bewertungstabellen nicht ausreicht. Vielmehr müssen die individuellen Auswirkungen der verschiedenen Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe am Leben umfassend gewürdigt werden.

Besondere Bedeutung haben dabei Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Erkrankungen. Diese können sich verstärkend auswirken und zu einer höheren Gesamtbeeinträchtigung führen, als die Summe der Einzelbeeinträchtigungen vermuten lässt..

Hauptaspekte der GdB-Bewertung bei mehreren Erkrankungen

Das Prinzip der Teilhabebeeinträchtigung

Das zentrale Prinzip bei der Bewertung mehrerer Erkrankungen ist die Gesamtbetrachtung der Teilhabebeeinträchtigung. Das Versorgungsamt fragt nicht „Wie stark ist jede einzelne Erkrankung?“, sondern „Wie stark ist die Gesamtbeeinträchtigung der Teilhabe am Leben?“

Diese Herangehensweise berücksichtigt, dass sich Behinderungen nicht linear addieren. Die tatsächliche Gesamtbeeinträchtigung kann niedriger sein, wenn sich die Erkrankungen nicht wesentlich verstärken, oder höher, wenn sie sich ungünstig beeinflussen.

Die Bedeutung der Grunderkrankung

Bei der Bewertung mehrerer Erkrankungen bildet die schwerste Funktionsbeeinträchtigung – also die mit dem höchsten Einzel-GdB – die Grundlage für die Gesamtbewertung. Diese „Grunderkrankung“ bestimmt den Ausgangspunkt, von dem aus geprüft wird, ob weitere Erkrankungen zu einer zusätzlichen Teilhabebeeinträchtigung führen.

Wechselwirkungen und Synergieeffekte

Besonders wichtig ist die Beurteilung von Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Erkrankungen. Manche Gesundheitsstörungen verstärken sich gegenseitig und führen zu einer überproportionalen Beeinträchtigung. Andere Erkrankungen haben kaum zusätzliche Auswirkungen, wenn bereits eine schwere Grunderkrankung vorliegt.

Klassische Beispiele für sich verstärkende Wechselwirkungen sind:

  • Diabetes und Herzerkrankung (verstärken sich gegenseitig)
  • Chronische Schmerzen und Depression (beeinflussen sich stark)
  • Seh- und Hörbehinderung (erschweren Kompensationsmöglichkeiten)
  • Atemwegserkrankungen und Herzleiden (belasten gemeinsam das Herz-Kreislauf-System)

Abgrenzung zu Folgeerkrankungen

Ein wichtiger Aspekt ist die Unterscheidung zwischen eigenständigen Erkrankungen und Folgeerscheinungen einer Grunderkrankung. Folgeerkrankungen werden in der Regel nicht als separate Funktionsbeeinträchtigung bewertet, sondern sind bereits in der Bewertung der Grunderkrankung enthalten.

Praktische Tipps für Betroffene

Vollständige Dokumentation aller Erkrankungen

Der erste und wichtigste Schritt ist die vollständige Erfassung aller gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Oft konzentrieren sich Antragsteller auf ihre „Haupterkrankung“ und vergessen dabei, weitere Gesundheitsprobleme zu erwähnen, die durchaus relevant sein können.

Erstellen Sie eine detaillierte Liste aller Ihrer Erkrankungen, auch scheinbar geringfügiger Beschwerden. Berücksichtigen Sie dabei nicht nur akute Erkrankungen, sondern auch chronische Leiden, psychische Belastungen, Schmerzzustände und Funktionseinschränkungen.

Wechselwirkungen deutlich machen

Beschreiben Sie ausführlich, wie sich Ihre verschiedenen Erkrankungen gegenseitig beeinflussen. Dies ist oft der Schlüssel zu einer angemessenen Gesamtbewertung. Führen Sie konkrete Beispiele aus Ihrem Alltag an:

  • Wie verstärken sich verschiedene Symptome gegenseitig?
  • Welche Auswirkungen haben Medikamentenwechselwirkungen?
  • Wie beeinflussen sich körperliche und psychische Beschwerden?
  • Welche Aktivitäten sind durch die Kombination mehrerer Erkrankungen besonders erschwert?

Aktuelle und aussagekräftige Befunde vorlegen

Sorgen Sie dafür, dass für alle relevanten Erkrankungen aktuelle medizinische Befunde vorliegen. Veraltete Unterlagen können zu einer Unterschätzung Ihrer aktuellen Beeinträchtigungen führen. Bitten Sie Ihre behandelnden Ärzte um detaillierte Berichte, die nicht nur die Diagnose, sondern auch die konkreten Auswirkungen auf Ihre Leistungsfähigkeit beschreiben.

Auswirkungen auf verschiedene Lebensbereiche dokumentieren

Das Versorgungsamt bewertet nicht nur medizinische Befunde, sondern die konkreten Auswirkungen auf Ihre Teilhabe am Leben. Dokumentieren Sie daher die Einschränkungen in verschiedenen Bereichen:

  • Berufliche Leistungsfähigkeit
  • Mobilität und Fortbewegung
  • Soziale Kontakte und Freizeitaktivitäten
  • Selbstversorgung und Haushaltsführung
  • Kommunikationsfähigkeit

Bei Ablehnungen: Widerspruch einlegen

Falls das Versorgungsamt Ihre mehreren Erkrankungen nicht angemessen bewertet hat, zögern Sie nicht, Widerspruch einzulegen. Oft werden bei der Erstbegutachtung Wechselwirkungen nicht ausreichend berücksichtigt oder wichtige Aspekte übersehen.

Im Widerspruchsverfahren haben Sie die Möglichkeit, zusätzliche Unterlagen nachzureichen und Ihre Situation noch detaillierter darzustellen. Nutzen Sie diese Chance, um auf übersehene Aspekte hinzuweisen.

Checkliste: So bereiten Sie Ihren Antrag optimal vor

Vor der Antragstellung

  • Vollständige Liste aller Erkrankungen und Beschwerden erstellen 
  • Behandelnde Ärzte über geplanten GdB-Antrag informieren 
  • Aktuelle Befunde und Arztberichte für alle Erkrankungen sammeln 
  • Auswirkungen auf den Alltag schriftlich dokumentieren 
  • Medikamentenliste mit Neben- und Wechselwirkungen zusammenstellen

Während des Verfahrens

  • Alle Erkrankungen vollständig im Antrag angeben 
  • Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Leiden beschreiben 
  • Konkrete Beispiele für Beeinträchtigungen im Beruf und Alltag nennen 
  • Bei Nachfragen des Versorgungsamts zeitnah und vollständig antworten 
  • Zusätzliche Befunde nachreichen, falls erforderlich

Nach dem Bescheid

  • GdB-Bescheid sorgfältig prüfen 
  • Bei Unzufriedenheit: Widerspruchsfrist beachten (ein Monat) 
  • Im Widerspruch neue Argumente und Unterlagen vorlegen 
  • Bei komplexen Fällen fachkundige Beratung in Anspruch nehmen

Langfristige Überlegungen

  • Verschlechterungsantrag bei Progression der Erkrankungen stellen 
  • Neue Erkrankungen zeitnah melden, ggf. als Änderungsantrag
  • Regelmäßige Überprüfung der GdB-Bewertung bei chronischen Leiden 
  • Dokumentation der Krankheitsentwicklung für spätere Anträge

Die optimale Vorbereitung und Darstellung Ihres Falls kann entscheidend für eine angemessene GdB-Bewertung sein. Bei komplexen Konstellationen mit mehreren Erkrankungen empfiehlt sich oft die Unterstützung durch einen erfahrenen Fachanwalt für Sozialrecht.

Eine ganzheitliche Bewertung ist entscheidend

Die Bewertung des Grades der Behinderung bei mehreren Erkrankungen ist ein komplexer Prozess, der weit über eine einfache Addition von Einzelwerten hinausgeht. Das Versorgungsamt muss eine ganzheitliche Betrachtung der Teilhabebeeinträchtigung vornehmen und dabei Wechselwirkungen, Synergieeffekte und die individuellen Auswirkungen auf verschiedene Lebensbereiche berücksichtigen.

Für Betroffene ist es wichtig zu verstehen, dass eine niedrigere Gesamtbewertung als erwartet nicht automatisch eine Benachteiligung darstellt, sondern der besonderen Bewertungssystematik folgt. Gleichzeitig sollten sie darauf achten, dass alle relevanten Aspekte ihrer Erkrankungen und deren Wechselwirkungen angemessen berücksichtigt werden.

Häufig gestellte Fragen

Werden bei mehreren Erkrankungen die GdB-Werte addiert?

Nein, die GdB-Werte werden nicht einfach addiert. Das Versorgungsamt nimmt eine Gesamtbewertung der Teilhabebeeinträchtigung vor. Dabei wird von der schwersten Erkrankung ausgegangen und geprüft, ob weitere Erkrankungen zu einer zusätzlichen Beeinträchtigung führen.

Kann der Gesamt-GdB niedriger sein als der höchste Einzel-GdB?

Nein, der Gesamt-GdB kann nicht niedriger sein als der höchste Einzel-GdB. Er entspricht mindestens dem höchsten Einzelwert und kann durch weitere Erkrankungen schrittweise erhöht werden.

Wie werden Wechselwirkungen zwischen Erkrankungen bewertet?

Wechselwirkungen werden individuell beurteilt. Verstärken sich Erkrankungen gegenseitig, kann dies zu einer höheren Gesamtbewertung führen. Haben zusätzliche Erkrankungen bei einer bereits schweren Grunderkrankung kaum zusätzliche Auswirkungen, bleiben sie oft unberücksichtigt.

Was ist der Unterschied zwischen eigenständigen Erkrankungen und Folgeerscheinungen?

Eigenständige Erkrankungen entstehen unabhängig voneinander und werden separat bewertet. Folgeerscheinungen sind bereits in der Bewertung der Grunderkrankung enthalten und führen nicht zu einer zusätzlichen GdB-Erhöhung.

Wie kann ich nachweisen, dass sich meine Erkrankungen gegenseitig verstärken?

Beschreiben Sie konkrete Beispiele aus Ihrem Alltag und lassen Sie sich von Ihren Ärzten die Wechselwirkungen bestätigen. Führen Sie ein Symptomtagebuch und dokumentieren Sie, wie sich verschiedene Beschwerden gegenseitig beeinflussen.

Kann eine psychische Erkrankung zu einer körperlichen Erkrankung zusätzlich bewertet werden?

Ja, psychische Erkrankungen werden als eigenständige Funktionsbeeinträchtigung bewertet, auch wenn bereits körperliche Leiden vorliegen. Besonders bei chronischen Schmerzen oder schweren körperlichen Erkrankungen können psychische Belastungen zusätzlich berücksichtigt werden.

Was passiert, wenn neue Erkrankungen zu bestehenden hinzukommen?

Sie können einen Änderungsantrag (Verschlechterungsantrag) stellen. Das Versorgungsamt prüft dann, ob die neuen Erkrankungen zu einer Erhöhung des Gesamt-GdB führen. Dabei werden alle Erkrankungen erneut in ihrer Gesamtheit bewertet. 

Wie oft kann ich meinen GdB überprüfen lassen?

Eine Überprüfung ist grundsätzlich jederzeit möglich, wenn sich Ihr Gesundheitszustand wesentlich verändert hat.

Was tue ich, wenn ich mit der GdB-Bewertung nicht einverstanden bin?

Sie können innerhalb eines Monats nach Zustellung des Bescheids Widerspruch einlegen. Im Widerspruchsverfahren haben Sie die Möglichkeit, zusätzliche Unterlagen vorzulegen und Ihre Argumentation zu vertiefen.

Lohnt sich bei komplexen Fällen die Beauftragung eines Anwalts?

Bei mehreren Erkrankungen mit komplexen Wechselwirkungen kann anwaltliche Unterstützung sehr hilfreich sein. Ein erfahrener Fachanwalt für Sozialrecht kennt die Bewertungspraxis und kann Ihren Fall optimal darstellen. 

5 weiterführende Links:

Bürgergeld

Krankenversicherung

Ablauf eines sozialrechtlichen Verfahrens

Rentenversicherung

Arbeitsförderung

Grad der Behinderung bei mehreren Erkrankungen