Das Wichtigste im Überblick:
- ADHS kann bei Kindern einen Grad der Behinderung zwischen 10 und 100 begründen – abhängig vom Schweregrad der Symptomatik und den Auswirkungen auf die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
- Die Antragstellung erfolgt beim zuständigen Versorgungsamt mit umfassender medizinischer Dokumentation und detaillierter Schilderung der Alltagsbeeinträchtigungen
- Ein anerkannter GdB eröffnet vielfältige Nachteilsausgleiche wie Steuervergünstigungen, besonderen Kündigungsschutz für die Eltern und Unterstützung in Schule und Ausbildung
Warum der Grad der Behinderung bei ADHS-Kindern wichtig ist
Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zählt zu den häufigsten psychischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter. Während die Diagnose ADHS bereits gestellt wurde, stellt sich für viele Eltern die Frage: Kann mein Kind einen Grad der Behinderung erhalten und welche Vorteile bringt dies mit sich?
Der Grad der Behinderung bei ADHS-Kindern ist nicht nur eine formale Anerkennung der Beeinträchtigungen, sondern eröffnet konkrete Unterstützungsmöglichkeiten und Nachteilsausgleiche. Diese können den Alltag der betroffenen Familien erheblich erleichtern und dem Kind bessere Entwicklungschancen bieten.
Viele Eltern zögern jedoch, einen entsprechenden Antrag zu stellen – aus Unwissen über die rechtlichen Möglichkeiten oder aus Sorge vor Stigmatisierung. Dabei kann die Anerkennung eines Grades der Behinderung bei ADHS eine wichtige Weichenstellung für die Zukunft des Kindes darstellen.
Rechtliche Grundlagen: Das Schwerbehindertenrecht bei Kindern mit ADHS
Grundsätzliche Voraussetzungen nach dem SGB IX
Die rechtliche Grundlage für die Feststellung eines Grades der Behinderung findet sich im Neunten Sozialgesetzbuch (SGB IX). Nach § 2 SGB IX sind Menschen mit Behinderungen solche, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können.
ADHS fällt grundsätzlich unter den Begriff der seelischen Behinderung. Entscheidend ist jedoch nicht allein die Diagnose, sondern die individuellen Auswirkungen auf die Teilhabemöglichkeiten des Kindes.
Bewertungsmaßstäbe der Versorgungsmedizin-Verordnung
Gemäß der aktuellen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV), Anlage Teil B, Abschnitt 3.5.2, sind die GdB-Werte für ADHS (hyperkinetische Störungen und Aufmerksamkeitsdefizit-Störungen ohne Hyperaktivität) ausdrücklich geregelt. Dabei wird insbesondere auf die Auswirkung der Störung auf die soziale Anpassungsfähigkeit und Integration abgestellt.
Folgende Bewertungsrahmen gelten gemäß der VersMedV:
- Kein GdB bei fehlenden sozialen Anpassungsschwierigkeiten.
- GdB 10 bis 20 bei vorhandenen Anpassungsschwierigkeiten, aber ohne Auswirkung auf die Integrationsfähigkeit.
- GdB 30 bis 40 bei deutlich beeinträchtigender Auswirkung auf die Integration in mehreren Lebensbereichen (z. B. Schule, Familie, Freizeit) oder einer erhöhten Beaufsichtigungsbedürftigkeit.
- GdB 50 bis 70 bei Beeinträchtigungen, die eine Integration nur mit umfassender Unterstützung oder Beaufsichtigung ermöglichen.
- GdB 80 bis 100 bei schweren Beeinträchtigungen, die eine Integration auch mit umfassender Unterstützung nicht ermöglichen.
Ab dem 25. Lebensjahr wird der Grad der Behinderung regelmäßig nicht über 50 hinaus festgesetzt.
Diese konkreten GdB-Spannen liefern verbindliche Orientierung für Gutachter und Behörden und zeigen, dass je nach Schwere der individuellen Beeinträchtigungen auch hohe GdB-Werte bei ADHS-Kindern möglich sind. Damit wird die Feststellung des GdB nicht allein an der Diagnose festgemacht, sondern an den tatsächlichen Auswirkungen auf die gesellschaftliche Teilhabe und die Notwendigkeit von Unterstützungsmaßnahmen.
Besonderheiten bei Kindern und Jugendlichen
Bei Kindern und Jugendlichen gelten besondere Bewertungsmaßstäbe. Die Versorgungsmedizin-Verordnung berücksichtigt, dass sich Kinder noch in der Entwicklung befinden und Beeinträchtigungen sich unterschiedlich auf verschiedene Entwicklungsphasen auswirken können.
Wichtig ist die Beurteilung der altersentsprechenden Teilhabemöglichkeiten. Bei einem sechsjährigen Kind stehen andere Aspekte im Vordergrund als bei einem 16-jährigen Jugendlichen. Die Gutachter müssen daher sowohl die aktuellen Auswirkungen als auch die voraussichtliche weitere Entwicklung berücksichtigen..
ADHS im Detail: Symptomatik und Auswirkungen auf den Alltag
Die drei Kernsymptome von ADHS
ADHS manifestiert sich durch drei Hauptsymptomkomplexe, die in unterschiedlicher Ausprägung auftreten können:
Aufmerksamkeitsstörungen zeigen sich durch Schwierigkeiten bei der Konzentration auf Aufgaben, häufige Ablenkbarkeit und Probleme beim Befolgen von Anweisungen. Betroffene Kinder verlieren oft Gegenstände, vergessen Termine und haben Mühe, Aufgaben zu Ende zu führen.
Hyperaktivität äußert sich in einem übermäßigen Bewegungsdrang, der nicht der Situation angemessen ist. Die Kinder können nicht still sitzen, reden übermäßig viel und haben Schwierigkeiten bei ruhigen Aktivitäten.
Impulsivität führt zu vorschnellen Handlungen ohne Berücksichtigung der Konsequenzen. Die Kinder platzen mit Antworten heraus, können nicht warten und unterbrechen häufig andere.
Auswirkungen auf verschiedene Lebensbereiche
Die Bewertung des Grades der Behinderung orientiert sich nicht nur an der medizinischen Diagnose, sondern vor allem an den konkreten Auswirkungen auf die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.
Schulische Beeinträchtigungen stehen oft im Vordergrund. ADHS-Kinder haben häufig Schwierigkeiten, dem Unterricht zu folgen, Hausaufgaben zu erledigen oder sich in die Klassengemeinschaft zu integrieren. Dies kann zu Schulproblemen bis hin zur Gefährdung des Schulabschlusses führen.
Soziale Schwierigkeiten ergeben sich durch die Symptomatik oft automatisch. Die Kinder haben Probleme beim Knüpfen und Aufrechterhalten von Freundschaften, werden möglicherweise ausgegrenzt oder entwickeln Verhaltensprobleme als Reaktion auf wiederkehrende Misserfolge.
Familiäre Belastungen sind nicht zu unterschätzen. Das Zusammenleben mit einem ADHS-Kind kann sehr herausfordernd sein und die gesamte Familie belasten. Geschwisterkinder leiden oft unter der intensiven Aufmerksamkeit, die das ADHS-Kind benötigt.
Begleiterkrankungen und Komorbiditäten
ADHS tritt selten isoliert auf. Häufige Begleiterkrankungen sind Lernstörungen (Legasthenie, Dyskalkulie), emotionale Störungen (Angststörungen, Depressionen) oder Verhaltensstörungen. Diese Komorbiditäten können den Grad der Behinderung erheblich beeinflussen und müssen bei der Bewertung berücksichtigt werden.
Auch körperliche Beschwerden wie Schlafstörungen, Kopfschmerzen oder Ticks können auftreten und die Gesamtbeeinträchtigung verstärken. Die Versorgungsämter müssen das Zusammenwirken aller Funktionsbeeinträchtigungen bewerten.
Praktische Tipps für Eltern: So bereiten Sie den Antrag optimal vor
Sammlung der medizinischen Unterlagen
Der Erfolg eines Antrags auf Feststellung des Grades der Behinderung steht und fällt mit der Qualität der eingereichten Unterlagen. Beginnen Sie frühzeitig mit der Sammlung aller relevanten Dokumente:
Diagnosestellende Berichte des Kinder- und Jugendpsychiaters oder -psychologen sollten die ADHS-Diagnose eindeutig bestätigen und die angewandten Diagnosekriterien benennen.
Behandlungsverläufe dokumentieren den bisherigen Therapieverlauf, eingesetzte Medikamente und deren Wirksamkeit sowie Nebenwirkungen. Auch erfolglose Behandlungsversuche sind wichtig, da sie die Therapieresistenz belegen können.
Schulzeugnisse und Berichte der Lehrer geben Aufschluss über die schulischen Auswirkungen der ADHS. Besonders wertvoll sind detaillierte Einschätzungen des Klassenlehrers zu Verhalten und Leistungsfähigkeit.
Berichte von Ergotherapeuten oder anderen Therapeuten können zusätzliche Aspekte der Beeinträchtigung belegen und die Notwendigkeit kontinuierlicher Therapie dokumentieren.
Detaillierte Schilderung der Alltagsbeeinträchtigungen
Neben den medizinischen Unterlagen ist eine ausführliche Schilderung der konkreten Auswirkungen im Alltag entscheidend. Beschreiben Sie präzise:
Typische Tagessituationen vom Aufstehen über Mahlzeiten bis zum Zubettgehen. Wie lange dauern alltägliche Verrichtungen? Welche Hilfestellungen sind erforderlich?
Schulische Herausforderungen wie Konzentrationsdauer, Arbeitsverhalten, soziale Integration und zusätzliche Unterstützung durch Lehrer oder Schulbegleitung.
Freizeitverhalten und soziale Kontakte. Kann das Kind altersgemäße Aktivitäten ausüben? Wie gestalten sich Freundschaften und Familienleben?
Selbstständigkeit in altersentsprechenden Bereichen. Welche Aufgaben kann das Kind eigenständig bewältigen, wo ist eine dauerhafte Anleitung nötig?
Bedeutung einer anwaltlichen Begleitung
Die Antragstellung und das Verfahren können komplex sein. Ein erfahrener Anwalt für Sozialrecht kann bereits bei der Antragsvorbereitung wertvolle Unterstützung leisten und dafür sorgen, dass alle relevanten Aspekte berücksichtigt werden.
Checkliste: Schritt für Schritt zum erfolgreichen Antrag
Vor der Antragstellung
- Medizinische Dokumentation vollständig sammeln (Diagnoseberichte, Behandlungsverläufe, Therapieberichte)
- Schulische Unterlagen zusammentragen (Zeugnisse, Lehrereinschätzungen, Förderpläne)
- Alltagsbeeinträchtigungen detailliert dokumentieren (Tagessituationen, benötigte Hilfen)
- Aktuelle Symptomatik durch Facharzt bestätigen lassen
- Begleiterkrankungen vollständig erfassen und dokumentieren lassen
Der Antrag
- Antrag beim zuständigen Versorgungsamt stellen (meist am Wohnort des Kindes)
- Alle relevanten Unterlagen beifügen oder nachreichen
- Schweigepflichtentbindungen für alle behandelnden Ärzte erteilen
- Kopien aller Unterlagen für eigene Unterlagen anfertigen
- Antragseingang schriftlich bestätigen lassen
Nach der Antragstellung
- ggf. Gutachtertermin wahrnehmen
- Ergänzende Unterlagen nachreichen, falls erforderlich
- Bescheid abwarten (Bearbeitungszeit kann mehrere Monate betragen)
- Bei negativem Bescheid: Widerspruch prüfen lassen
- Bei positivem Bescheid: Nachteilsausgleiche beantragen
Langfristige Betreuung
- Verschlechterungsantrag bei erheblicher Symptomverstärkung prüfen
- Überprüfung bei befristetem Bescheid rechtzeitig beantragen
- Nachteilsausgleiche regelmäßig auf Aktualität prüfen
- Rechtliche Beratung bei Problemen oder Änderungen in Anspruch nehmen.
ADHS-Kinder haben Anspruch auf gesellschaftliche Teilhabe
Die Feststellung eines Grades der Behinderung bei Kindern mit ADHS ist mehr als nur eine formale Anerkennung. Sie eröffnet konkrete Unterstützungsmöglichkeiten und trägt dazu bei, dass betroffene Kinder ihre Potentiale besser entfalten können.
Eltern sollten nicht zögern, ihre Rechte wahrzunehmen, wenn ADHS das Leben ihres Kindes erheblich beeinträchtigt. Ein gut vorbereiteter Antrag hat gute Erfolgsaussichten, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind. Die Investition in eine sorgfältige Vorbereitung und gegebenenfalls anwaltliche Unterstützung kann sich langfristig für die gesamte Familie auszahlen.
Als erfahrener Anwalt für Sozialrecht mit langjährigem Schwerpunkt im Schwerbehindertenrecht unterstütze ich Familien dabei, die Rechte ihrer Kinder durchzusetzen. Wenn Sie Fragen zur Antragstellung oder zum weiteren Vorgehen haben, stehe ich Ihnen gerne mit meiner Erfahrung zur Seite.
Häufig gestellte Fragen
Ab welchem Alter kann für ein Kind mit ADHS ein Grad der Behinderung beantragt werden?
Grundsätzlich gibt es keine Altersgrenze nach unten. Bereits bei Kleinkindern kann ein GdB beantragt werden, wenn eine gesicherte ADHS-Diagnose vorliegt und erhebliche Teilhabebeeinträchtigungen bestehen. In der Praxis wird jedoch meist erst ab dem Vorschul- oder Schulalter ein Antrag gestellt, da dann die Auswirkungen besser bewertbar sind.
Führt die Einnahme von ADHS-Medikamenten automatisch zu einem niedrigeren GdB?
Nein, eine medikamentöse Behandlung führt nicht automatisch zu einem niedrigeren GdB. Entscheidend sind die verbleibenden Beeinträchtigungen trotz Behandlung. Wenn unter Medikation noch erhebliche Einschränkungen bestehen oder die Medikamente nicht vertragen werden, kann dies sogar für einen höheren GdB sprechen.
Kann ein einmal festgestellter GdB wieder aberkannt werden?
Ja, wenn sich die Beeinträchtigungen erheblich verbessern, kann das Versorgungsamt den GdB herabsetzen oder ganz aufheben. Dies geschieht meist bei Nachprüfungen oder wenn eine deutliche Besserung der Symptomatik eintritt. Daher ist es wichtig, Verschlechterungen rechtzeitig zu melden.
Welche Nachteilsausgleiche stehen bei einem GdB von 30 zur Verfügung?
Bei einem GdB von 30 können Steuervergünstigungen (Behinderten-Pauschbetrag) beantragt werden. Außerdem besteht Anspruch auf schulische Nachteilsausgleiche.
Müssen beide Elternteile dem Antrag zustimmen?
Bei gemeinsamer elterlicher Sorge müssen grundsätzlich beide Elternteile dem Antrag zustimmen. Bei getrennt lebenden Eltern kann es zu Konflikten kommen, die gegebenenfalls familiengerichtlich geklärt werden müssen.
Wie lange dauert das Verfahren beim Versorgungsamt?
Die Bearbeitungszeit variiert stark, beträgt aber meist zwischen 3-9 Monaten. Bei komplexen Fällen oder wenn zusätzliche Gutachten erforderlich sind, kann es auch länger dauern. Ein nachvollziehbarer Grund für die Verzögerung liegt vor allem in der aufwändigen medizinischen Bewertung.
Was passiert, wenn das Kind volljährig wird?
Mit Erreichen der Volljährigkeit geht die Zuständigkeit für den Schwerbehindertenausweis auf das Kind selbst über. Der GdB bleibt jedoch bestehen. Volljährige können dann selbst Überprüfungsanträge stellen oder Widerspruch einlegen.
Können auch private Zusatzleistungen beantragt werden?
Ja, viele private Versicherungen (Krankenzusatz, Unfallversicherung) bieten Leistungen für behinderte Kinder an. Auch bei Banken gibt es teilweise vergünstigte Konditionen. Der Schwerbehindertenausweis öffnet hier viele Türen.
Was ist bei einem Umzug in ein anderes Bundesland zu beachten?
Der Schwerbehindertenausweis gilt bundesweit. Bei einem Umzug muss lediglich die neue Adresse beim neuen zuständigen Versorgungsamt gemeldet werden. Die Bewertungsmaßstäbe sind deutschlandweit einheitlich.
Kann gegen einen negativen Bescheid Widerspruch eingelegt werden?
Ja, gegen jeden Bescheid des Versorgungsamts kann binnen eines Monats schriftlich Widerspruch eingelegt werden. Oft ist es ratsam, sich anwaltliche Unterstützung zu holen, da im Widerspruchsverfahren neue medizinische Erkenntnisse eingebracht werden können.
