Die Voraussetzungen für das Merkzeichen aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) im Schwerbehindertenrecht haben sich vor einigen Jahren verschärft.

Seitdem ist es nicht nur erforderlich, dass sich der schwerbehinderte Mensch dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann. Als weitere Voraussetzung kommt seitdem hinzu, dass eine mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung besteht, die einem GdB von mindestens 80 entspricht. Es reicht also nicht jeder Gesamtgrad der Behinderung von 80, vielmehr muss sich ein solcher GdB allein auf die Einschränkung der Mobilität beziehen.

Seit Einführung dieser neuen Rechtslage gab es zu diesem Themenkreis noch keine höchstrichterliche Rechtsprechung des Bundessozialgerichts. Dies hat sich nun geändert. Das Bundessozialgericht hat am 09.03.2023 zwei Verfahren zu diesem Themenkreis entschieden.


Dabei hat das Bundessozialgericht sinngemäß entschieden, dass für die Zuerkennung des Merkzeichens aG und damit für die Nutzung von Behindertenparkplätzen (neben dem mobilitätsbezogenen GdB 80) allein die Gehfähigkeit im öffentlichen Verkehrsraum maßgeblich ist.


Eine bessere Gehfähigkeit in anderen Lebenssituationen – zum Beispiel allein in vertrauter Umgebung und Situation oder unter idealen räumlichen Bedingungen – ist für die Zuerkennung dieses Merkzeichens im Regelfall ohne Bedeutung.


In einem der entschiedenen Fälle (Az. B 9 SB 8/21 R) kann der Kläger wegen einer globalen Entwicklungsstörungen nur in vertrauten Situationen im schulischen oder häuslichen Bereich frei gehen. In unbekannter Umgebung ist dies jedoch nicht der Fall.


Das Bundessozialgericht hat in diesem Fall das Merkzeichen aG zugesprochen, da nach dem Sinn und Zweck des Schwerbehindertenrechts die gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen vollständig erreicht werden soll. Hiervon sei gerade auch das Aufsuchen veränderlicher und vollkommen unbekannter Einrichtungen des sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens erfasst.


Dass die Klägerin in vertrauten Situationen zu Hause und in der Schule frei gehen kann, steht der Zuerkennung des Merkzeichens aG nach dieser Entscheidung des Bundessozialgerichts nicht entgegen.


In dem weiteren entschiedenen Fall (Az. B 9 SB 1/22 R)  leidet der Kläger unter anderem an einer fortschreitenden Muskelschwunderkrankung mit Verlust von Gang- und Standstabilität. Diesem Kläger ist es zwar möglich, auf einem Krankenhausflur zu gehen. Nach den Feststellungen des Gerichts ist aber eine freie Gehfähigkeit ohne Selbstverletzungsgefahr im öffentlichen Verkehrsraum mit Bordsteinkanten, abfallenden oder ansteigenden Wegen oder bei Unebenheiten nicht mehr gegeben.


Das Bundessozialgericht konnte diesen Fall nicht abschließend entscheiden, sondern verwies das Verfahren zurück an das Landessozialgericht, da im Berufungsverfahren nicht ausreichend geklärt worden war, ob die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigungen einem GdB von 80 entsprechen.

Den wichtigen Grundsatz hat das Bundessozialgericht jedoch herausgearbeitet, dass für die Prüfung der Gehfähigkeit der öffentliche Verkehrsraum maßgeblich ist und nicht eine geschützte und vertraute Umgebung (wie hier der Krankenhausflur).

Die ausführlichen schriftlichen Entscheidungsgründe des BSG liegen noch nicht vor.

Urteile des Bundessozialgerichts vom 09.03.2022 zum Merkzeichen aG (außergewöhnliche Gehbehinderung -> Nutzung von Behindertenparkplätzen)